Placebo kontra Wirkstoffpille - Netdoctor.de
Autor: Christiane Fux - Quellen: Rami Burstein*: Altered Placebo and Drug Labeling Changes the Outcome of Episodic Migraine Attacks; 8 January 2014, Sci. Transl. Med. 6, 218ra5 (2014)

Sie lindern Schmerzen, helfen Schlaflosen, senken den Blutdruck - und all das, obwohl in ihnen kein Milligramm Wirkstoff steckt: Placebos geben der Medizin noch immer Rätsel auf. Unbestritten ist indes, dass es ihn gibt, den Placeboeffekt.

Aus diesem Grund muss jedes Medikament, das zugelassen werden will, seit den 70er-Jahren in Studien gegen ein Scheinpräparat antreten. Nur so lässt sich feststellen, wie groß die Eigenwirkung des Arzneimittels tatsächlich ist. Denn der Anteil des Placeboeffekts an der Gesamtwirkung kann erheblich sein: Auf 20 bis 80 Prozent schätzen Experten ihn.

Mehr als pure Einbildung
Wie genau ein Placebo funktioniert, ist noch ungewiss. Fest steht inzwischen, dass es sich um weit mehr als pure Einbildung handelt: Untersuchungen haben nachgewiesen, dass Placebos die Ausschüttung körpereigener Opioide anstoßen, oder auch die Produktion des Botenstoffs Dopamin im Gehirn ankurbeln. Einen großen Einfluss hat dabei das Vertrauen in den Arzt und in das Medikament.

Doch die Wirkung des Placebos geht über die Kraft des Glaubens an das Medikament weit hinaus: Placebos funktionieren nämlich auch dann, wenn der Patient weiß, dass die Pille, die er schluckt, nur wirkstofffreien Zucker enthält.

Eindrucksvoll belegt dies eine Studie mit Migränepatienten. Die Teilnehmer erhielten für den Fall einer Migräneattacke sechs beschriftete Umschläge mit Tabletten. Zwei davon weckten positive Erwartungen bei den Patienten: Sie waren mit dem Namen eines gängigen Migränemedikaments beschriftet. Nur einer von ihnen enthielt aber tatsächlich den Wirkstoff Rizatriptan - in den anderen steckte ein Placebo. Zwei weitere Umschläge dämpften die Hoffnung auf Wirksamkeit. Auf ihnen stand „Placebo“, obwohl auch hier ein Umschlag das echte Medikament enthielt. Zwei weitere Umschläge mit Placebo beziehungsweise Medikament waren neutral beschriftet. Auf ihnen stand der Hinweis, dass die enthaltene Tablette ein Placebo ist ODER den Wirkstoff enthält.

Paradoxes Ergebnis
Wenig überraschte, dass die Wirkung am größten war, wenn das Medikament in einem Umschlag steckte, der auch noch mit dem Medikamenten beschriftet war. Genauer gesagt, war sie doppelt so groß, als wenn der Patient glaubte, ein Scheinmedikament zu nehmen. Die Pillen aus den falsch und den neutral beschrifteten Umschlägen wirkten jeweils gleich gut – das Placebo war also genauso wirksam wie das Medikament selbst.

Das wohl spannendste Ergebnis bescherte den Wissenschaftlern jedoch der mit „Placebo“ beschriftete Umschlag, der tatsächlich das Placebo enthielt: Auch hier entfaltete die Zuckerpille Wirkung. „Das funktioniert nicht bei allen Patienten, aber bei einigen schon“, erklärt Studienleiter Rami Burstain im Gespräch mit NetDoktor.de. Das Wissen, ein Placebo zu schlucken, zerstört die Wirkung also nicht zwangsläufig. Das scheint zunächst paradox, ging man doch davon aus, dass die Placebowirksamkeit auf dem Glauben an diese basiert.

„Bislang können wir uns das nur dadurch erklären, dass hier eine klassische Konditionierung vorliegt“, erklärt Burstain. Ein Migränepatient, der über Jahre hinweg bei einer Attacke Tabletten schluckt und anschließend Erleichterung verspürt, ist auf den simplen Effekt „Tablette gleich Schmerzlinderung“ konditioniert. Und diese Konditionierung sitzt so tief verankert, dass sie auch dann noch klappt, wenn der Patient bewusst eine wirkstofffreie Tablette einnimmt.

Untergejubelte Scheinmedikamente
Für den gezielten Einsatz von Placebos könnte dieses Ergebnis wegweisend sein. Tatsächlich werden Placebos heute in Krankenhäusern verabreicht, beispielsweise wenn Patienten einen unerklärlich hohen Bedarf an Schmerz- oder Beruhigungsmitteln haben. Hier probieren die Ärzte, ob nicht auch eine Scheinpille hilft, um so die Gefahr von Nebenwirkungen oder Sucht zu reduzieren.

Der Haken an der Sache ist ethischer Natur: Die Patienten wissen nicht, dass man ihnen Zuckerpillen unterjubelt, und werden getäuscht. Hinzu kommt: Außerhalb der Klinik ist das Prozedere nicht möglich. Denn hier überwacht kein Arzt, ob die Placebowirkung für den ahnungslosen Patienten auch ausreicht. Und das Verschreiben wirkstofffreier Tabletten, verpackt als Markenpräparate, wäre nicht nur logistisch kompliziert und potenziell gefährlich, sondern schlicht Betrug.

Dieses Dilemma ließe sich aufheben, wenn man die Placebos offen verordnen könnte, die Patienten also wüssten, dass die Pillen in der Schachtel keinen Wirkstoff enthalten. Tatsächlich praktizieren manche Ärzte diesen unmaskierten Einsatz der Scheinmedikamente bereits.

Damit dies in breiterem Rahmen möglich wird, forschen Burstain und Kollegen derzeit. Zu klärende Fragen sind: Bei wem wirken Placebos auch ohne Maske? Und wie funktioniert die Wirkung wirklich? Eine weitere Veröffentlichung zu diesem Thema ist bereits in Arbeit.