Etwa ein Drittel aller Diagnosen und Behandlungen sind überflüssig - und oft schaden sie mehr, als sie nützen -

Das nach Ansicht von Gilbert Welch grösste Problem in der Medizin: die Überdiagnostik, das Erkennen von «Krankheiten», die nie Probleme bereiten würden. «Wir sind inmitten einer Diagnose-Epidemie», konstatiert der US-Medizinprofessor in seinem Buch.

Mit seiner Ansicht steht der profilierte Kritiker nicht allein. Praktisch jede Woche erscheint in einer Fachzeitschrift eine Studie, die zeigt, dass «mehr» nicht automatisch «besser» bedeutet. «Welch hat recht», findet der Tessiner Gesundheitsökonom Gianfranco Domenighetti.

Die Kosten für Überdiagnosen - und folgende Überbehandlungen - sind gigantisch. Für die USA schätzen Fachleute, dass bis zu einem Drittel der Gesundheitsausgaben vergeudet werden. 2011 seien 158 bis 226 Milliarden Dollar allein für unsinnige Behandlungen bezahlt worden.

Für die Schweiz fehlen Berechnungen. Domenighetti wie auch der Berner Gesundheitsforscher André Busato halten es aber für realistisch, dass ein Drittel der Behandlungen hierzulande unnötig sind. Auch der Gesundheitsökonom Gerhard Kocher ist überzeugt, dass «überflüssige Leistungen seit Jahrzehnten ein Hauptübel des Gesundheitswesens sind- nicht nur aus Kostengründen.»
Die Gründe dafür:

- Angst, etwas zu verpassen
Wohin der Wunsch nach maximaler Sicherheit führen kann, beschreiben Herzspezialisten in den «Archives of Internal Medicine»: Wegen Schmerzen im Brustkorb, schlimmer beim Heben des rechten Arms, konsultierte eine 52-Jährige ihren Arzt. Dieser vermutete Muskelschmerzen als Grund. Weder bei der körperlichen Untersuchung noch bei den Labortests deutete irgendetwas auf ein Herzproblem hin.

Zur Sicherheit, und um sie zu beruhigen, riet der Arzt, ihre Herzarterien mithilfe von Kontrastmitteln im Computertomografen (CT) zu untersuchen. Auf den 3-D-Aufnahmen sahen die Ärzte sehr kleine Ablagerungen und eine Verkalkung. Es folgte eine Herzkatheter-Untersuchung zur Abklärung. Sie ergab, dass am Herz alles OK war - schuf aber ein neues Problem. Versehentlich wurde dabei eine wichtige Herzader verletzt, was zu einer sofortigen Bypassoperation führte, sechs Monate später zum Einsetzen mehrerer Gefässstützen. Doch das Herz der - zuvor klinisch gesunden - Frau war nicht zu retten. Kurz danach erlitt sie einen Herzinfarkt mit Schock und bekam notfallmässig ein Herz transplantiert.

Der Fall ist aussergewöhnlich, aber dennoch typisch für die heutige Medizin. In einem Versuch in Südkorea wurde tausend beschwerdefreien Menschen die gleiche CT-Untersuchung wie der Frau angeboten. Dadurch wurde jeder fünfte zum Patienten. Denn die Aufnahmen zeigten bei 215 Personen Verkalkungen in den Herzgefässen. Es kam zu 55 Folgeuntersuchungen und 13 Eingriffen; 40 Prozent der Untersuchten schluckten drei Monate nach dem schicksalhaften CT zur Vorbeugung Aspirin, ein Drittel nahm einen Cholesterinsenker. Die allermeisten werden davon nicht profitieren.

- Immer tiefere Normwerte
Im Bemühen, viele vor möglichem Unheil zu bewahren, senkten Experten im Lauf der Jahre bei diversen Werten die Grenze dessen, was als «normal» gilt. Damit liegt für immer grössere Bevölkerungsgruppen die Einnahme von Medikamenten nahe. Denn leicht abnormale Werte sind viel häufiger als stark abnormale.

Als zum Beispiel der Normwert für Cholesterin von 6,2 auf 5,2 (Millimol/Liter) gesenkt wurde, wuchs der Anteil der behandlungsbedürftigen US-Amerikaner Welch zufolge um über 42 Millionen Menschen. Doch wie gross ist der Nutzen?

Nehmen Menschen ohne Herz-Kreislauf-Krankheiten fünf Jahre lang vorbeugend einen Cholesterinsenker, bewahrt das Medikament in dieser Zeit 1,6 Prozent vor einem Herzinfarkt und 0,4 Prozent vor dem Schlaganfall. 98 Prozent haben keinen Nutzen. Als Nebenwirkung bekommen 1,5 Prozent Diabetes und 10 Prozent Muskelschäden, rechnen die Macher der Medizinstatistik-Website www.thennt.com vor.

- Falsche Diagnosen
In Kanada testeten Forscher die Lungen von fast 500 Menschen, die von ihren Ärzten wegen Asthma behandelt wurden. Fazit: Etwa ein Drittel hatte gar kein Asthma und konnte mehrheitlich auf die Medikamente verzichten.

Ähnliches scheint bei der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) der Fall zu sein. In einem Versuch beurteilten rund 470 Kinderpsychiater und -psychotherapeuten vier Fallbeschreibungen von Kindern. Eine erfüllte die Diagnosekriterien von ADHS, die anderen drei nicht. Trotzdem stuften 17 Prozent der Fachleute auch diese Fälle als ADHS-krank ein. Handelte die Beschreibung von einem Knaben, war die Überdiagnose-Rate doppelt so hoch wie bei Mädchen.

- Reiz der Technologie
In den USA werden heute etwa dreimal so viele Untersuchungen im Computertomografen (CT) durchgeführt wie 1996. Bei den MRIs hat sich die Zahl vervierfacht. Die jährliche Strahlenbelastung übersteigt bei jedem zehnten Untersuchten die für Beschäftigte in der Nuklearindustrie erlaubte Dosis. Die Schweiz dürfte dem nicht nachstehen. Sie hat von rund 30 erfassten Ländern weltweit die fünfthöchste CT-Dichte. Hier stehen 266 CTs (ein Gerät pro 29 000 Einwohner). In Israel - am unteren Ende der Skala - beträgt das Verhältnis etwa 1:808 000. Die Anzahl der MRI-Geräte schätzt das Bundesamt für Gesundheit ähnlich hoch wie bei den CTs.

- «Zu gute» Diagnostik
Dank modernen Geräten und Tests erkennen die Ärzte - manchmal nebenbei - auch Dinge, die sie besser nicht gesehen hätten. Wie viele «anomale» Befunde es bei Gesunden gibt, zeigt eine Analyse an 1200 Menschen. Fast alle waren ohne speziellen Grund von Kopf bis Fuss im CT durchleuchtet worden: Bei 86 Prozent entdeckten die Radiologen etwas Auffälliges (total 3361 Abnormitäten), bei 37 Prozent rieten sie zu weiteren Abklärungen.

- Unerklärliche Beschwerden
Bei mehr als 85 Prozent der Menschen, die wegen Rückenschmerzen zum Allgemeinarzt gehen, lässt sich keine spezifische Ursache finden. CT- oder MRI-Untersuchungen machen deshalb in den ersten sechs Wochen keinen Sinn (ausser bei Alarmzeichen wie Nervenausfällen). Schätzungsweise ein Drittel der Geplagten kommt trotzdem binnen eines Monats in die Röhre oder wird geröntgt. Damit steigt ihr Risiko, dass sie den Stempel «Patient» bekommen, mehr Schmerzen leiden oder operiert werden. Das zeigten Vergleiche mit jenen, die nicht geröntgt wurden.

- Diagnose-Dilemma
Indem sie Organe von Verstorbenen scheibchenweise untersuchten, ermittelten Pathologen, wie viele Tumoren Menschen haben, ohne es zu wissen: Bis zu 36 Prozent der Verstorbenen hatten Krebs in der Schilddrüse.

Nicht einmal zwei Prozent der Krebs-Zufallsbefunde würden innerhalb von 20 Jahren zu tödlichen Tumoren, glaubt Welch, mit einer Ausnahme: den Lungentumoren bei Rauchern. Aber niemand weiss hundertprozentig, welcher Tumor Probleme machen wird und welcher nicht.

- Unnötige Medikamente
«Viele Menschen bekommen Antibiotika gegen Virus-Erkrankungen wie Erkältungen oder Nasennebenhöhlenentzündungen, die von allein ausheilen. Sie haben also keinen Nutzen, aber der übermässige Gebrauch führt zu Resistenzen und Nebenwirkungen. Beides sind ernsthafte Probleme», sagt Rita Redberg, die Chefredaktorin der «Archives of Internal Medicine».

- Doppelt hält nicht besser
Bei der Lungenfibrose wird das feine Gewebe durch sauerstoff-undurchlässiges Bindegewebe ersetzt. Dagegen gab es entweder Kortisonpräparate oder Immunsuppressiva. Dann kombinierten die Ärzte beide Medikamente - mit fatalen Folgen. Mit der Kombitherapie starben deutlich mehr Patienten, zeigte ein Versuch.

Bei Magenblutungen gehören Säureblocker zur Behandlung. Oft werden hohe Dosen an sogenannten Protonen-Pumpen-Hemmern verordnet. Im Vergleich mit der üblichen Dosierung schützen sie nicht besser vor erneuten Blutungen oder Eingriffen.

- Präferenzen
Zwischen 2003 und 2005 bekamen im Kanton Jura 84 von 100 000 Einwohnern eine neue Knievollprothese, im Kanton Glarus waren es 196 pro 100 000 Einwohner, stellte der Gesundheitsökonom Gianfranco Domenighetti fest. Solche Differenzen sind medizinisch nicht zu erklären.

- Finanzielle Anreize
«Um wirtschaftlich arbeiten zu können, sehen sich medizinische Einrichtungen gezwungen, ihre Patientenzahl zu steigern», kritisiert die deutsche Gesellschaft für Chirurgie. So werde etwa zu viel an Bandscheiben operiert. «Mit der Kommerzialisierung der Medizin nehmen überflüssige Leistungen auf praktisch allen Sektoren noch stärker zu», sagt der Gesundheitsökonom Gerhard Kocher.

- Medikalisierung
Aus Sodbrennen wurde die «Refluxkrankheit», aus Stimmungsschwankungen bei Kindern «bipolare Störung», aus nachlassendem Verlangen bei Frauen «weibliche sexuelle Dysfunktion». Mit gezielter PR würden Pharmafirmen neue Märkte schaffen, sagen Kritiker. Sie sorgen sich um die Neutralität von Experten, die medizinische Richtlinien erstellen. Viele davon erhalten auch Honorare von Firmen. Derzeit überarbeiten Fachleute zum Beispiel das Diagnostik-Handbuch, an dem sich Psychiater orientieren. Die Bemühungen, deren finanziellen Bindungen zur Industrie zu reduzieren, gelangen nur teilweise. In der Arbeitsgruppe, die das Kapitel Demenz bearbeitet, haben zum Beispiel 89 Prozent der Experten schon Gelder von Pharmafirmen bekommen; in der Arbeitsgruppe «Schlafstörungen» gar alle.